Lasse Laubfrosch lehnte lässig an einer der drei dicken Eichen. An diesem Treffpunkt war er verabredet mit seinen beiden Freunden Ferdinand Fischadler und Igor Igel. Die drei Jungs wollten heute gemeinsam nach ihrem verpuppten Schützling „Wurmi“ sehen. Gestern waren ihre Freundinnen Frieda Fuchs und Henriette Hase an der Reihe gewesen und diese beiden wären auch morgen wieder an der Reihe, falls heute immer noch keine Anzeichen dafür zu entdecken wären, dass Wurmi endlich schlüpfen wollte. So hatten sich die fünf Freunde den „Wurmi-Kontrolldienst“ eingeteilt.
Lasse lehnte zwar scheinbar alleine an der Eiche und wartete auf die anderen, aber eigentlich war auch Ferdinand schon am verabredeten Treffpunkt. Der Fischadler war nur gerade aufgeflogen, um aus der Luft Ausschau nach Igor zu halten, der sich heute etwas verspätete. Gerade überlegte Lasse, ob es sich noch lohnen könnte, wenn er den Grashalm, auf dem er zum Zeitvertreib schon länger herumkaute, ausspucken und sich einen neuen abpflücken würde. Aber seine Überlegungen wurden unterbrochen von Ferdinand, der sich neben Lasse auf den Boden plumpsen ließ (nicht gerade elegant gelandet), und Igor, der endlich zwischen den Bäumen in Sicht kam.
„‘Tschuldigung!“ schnaufte Igor, aber Lasse hatte schon abgewunken und Igor damit signalisiert, dass ihm seine Verspätung nicht übel genommen wurde. „Na dann, lasst uns mal losziehen!“ meinte Ferdinand und war schon wieder in der Luft. Diesmal blieb er aber nah genug bei seinen Freunden, um sich auf ihrem Weg durch die Heide mit ihnen unterhalten zu können. „Wollen wir wieder wetten, ob‘s heute passiert?“ fragte er sie. Wie immer entgegnete Lasse: „Ich nicht.“ Und wie immer antwortete Igor: „Ja, ich wette heute schlüpft Wurmi.“ „Okay, ich halt‘ dagegen“, meinte Ferdinand. Dass überhaupt nicht besprochen wurde, worum gerade gewettet worden war, störte keinen. Es ging eben nur ums Recht. Und darum, die Sache noch ein wenig spannender zu machen.
Die beiden Mädchen Frieda und Henriette beschäftigte seit Tagen eigentlich nur noch die Frage, ob Wurmi sich als ein Junge oder ein Mädchen herausstellen würde. Sie versprachen sich weibliche Verstärkung, da sie ja in der Clique 2:3 in der Unterzahl waren.
Aber nicht ernsthaft. Eigentlich kamen alle fünf immer gut miteinander aus und es war ganz egal, wie viele Jungs und Mädchen sie waren. Genauso wenig ernsthaft hielten die drei Jungs aber dagegen und behaupteten immer wieder steif und fest, dass Wurmi ein Junge sein müsse. In diesem Fall hatten sogar Ferdinand und Igor mit Frieda und Henriette um mehr als nur ums Recht gewettet. Wer am Ende unrecht hatte, musste eine Party organisieren. Eine „Wurmi-Schlupf-Party“. Da Lasse ja grundsätzlich nicht wettete, war er zum Schiedsrichter ernannt worden, für den Fall, dass die Frage nicht ganz so leicht zu beantworten sein würde wie erwartet. Aber eigentlich waren die fünf Freunde über die Eigenschaften vom Kleinen Nachtpfauen¬auge inzwischen alle bestens informiert. Sie konnten sie alle auswendig: „Große Fühler – Männchen, kleine Fühler – Weibchen.“ „Hat der Falter orangefarbene Hinterflügel, ist es ein Junge. Ist er eher weiß und grau, ist es ein Mädchen.“ „Und im Zweifelsfall sehen wir ja, wann Wurmi aktiv ist. Nachtaktiv sind die Weibchen, tagaktiv die Männchen.“ Das letzte Unterscheidungsmerkmal hatte Henriette Hase zu Anfang gar nicht glauben wollen.
„Ihr veräppelt mich doch“, hatte sie gelacht, als Frieda und Ferdinand ihr gesammeltes Wissen über das Kleine Nachtpfauenauge zum Bes-ten gegeben hatten. „Wie sollen die sich denn dann jemals treffen?“ Erst als Frieda ihr erklärt hatte, dass die Männchen darum so große Fühler haben, weil sie damit die Lockstoffe der Weibchen riechen können mussten, hatte Henriette aufgehört zu lachen. „Die Weibchen sitzen tagsüber einfach ruhig und warten, bis das Männchen sie gefunden hat“, hatte ihr Frieda erklärt. „Und das ist doch auch gar nicht so dumm“, hatte Ferdinand Frieda unterstützt. „Wenn alle panisch in der Gegend herumfliegen, kann man sich ja ewig suchen und der andere ist immer gerade woanders.“
Inzwischen war schon lange April und die Freunde machten sich langsam Sorgen, dass Wurmi vielleicht in diesem Jahr gar nicht mehr schlüpfen würde, sondern ein Jahr länger als Puppe herumhängen würde. Das sollte auch vorkommen, hatten sie gelernt. Dazu hatte Henriette nur eines zu sagen gehabt: „Ach nee, das wäre ja sowas von öde!“ Nein, sie waren sich alle einig: Wurmi musste jetzt ganz dringend bald schlüpfen! Jeden Tag gingen ein paar von ihnen zu der Stelle, an der Wurmi sich verpuppt hatte, und sahen nach.
An diesem Tag im April waren es also Igor, Lasse und Ferdinand. Jeden Tag wurde es immer spannender, je näher sie der Stelle kamen. Ferdinand hielt die Spannung irgendwann einfach nicht mehr aus und flog schließlich ein Stück voraus, während Igor ihm hinterher schimpfte: „He! Vorfliegen ist unfair!!“ Aber Ferdinand kreiste schon über der Stelle, auf die auch Lasse und Igor, so schnell sie ihre Frosch- und Igelbeine trugen, zusteuerten. Die beiden sahen, wie Ferdinand erst dicht über dem Boden eine Runde flog, dann kurz landete und sich suchend umsah. Dann sahen sie, wie er wieder aufflog und ein paar größere Runden drehte. „Da stimmt was nicht“, meinte Lasse schließlich. „Er findet ihn nicht.“ „Tempo!“ sagte Igor und legte noch einen Zahn zu. „Er ist weg“, rief ihnen Ferdinand entgegen. „Der Kokon ist aufgerissen und leer. Wurmi ist geschlüpft!“ „Hol schnell die Mädels!“ entgegnete Lasse, und Ferdinand drehte ab in Richtung der Wohnungen der beiden. Wie der Blitz sauste er davon.
Igor und Lasse waren jetzt endlich auch angekommen und konnten sich selbst davon überzeugen, dass Igor seine Wette gegen Ferdinand heute gewonnen hatte. „Er ist tatsächlich weg! Hoffentlich finden wir Wurmi überhaupt wieder“, meinte Igor besorgt um seinen Schützling. „Lass uns schon mal alleine anfangen zu suchen“, schlug Lasse vor. „Wir müssen aber auch auf den Heidepflanzen suchen, nicht nur in der Luft, weil Wurmi vielleicht noch gar nicht so gut fliegen kann, wenn er gerade erst frisch geschlüpft ist.“ Die Suche ging los. Zuerst nach dem Chaosprinzip mit lauten Rufen und wildem Durcheinanderlaufen. Dann, als Ferdinand mit Frieda und Henriette zurück war, brachte Frieda ein System in die Suche und sie gingen nebeneinander festgelegte Reihen ab.
Als Lasse gerade zum ungefähr hundertsten Mal laut „Wurmi“ gerufen hatte, klatschte ihm mit einem Mal fast etwas ins Gesicht. Das Etwas bremste nur knapp vor dem Zusammenstoß und fragte plötzlich mit einem scherzhaften Unterton in der Stimme: „Findet ihr nicht auch, dass „Wurmi“ inzwischen ein etwas unpassender Name für mich ist?“ „Wurmi!“ rief zuerst Lasse überrascht und dann voller Freude noch einmal alle fünf Freunde zusammen. Sofort gab es ein Riesenspektakel, bei dem viel gerufen, gelacht und umarmt wurde. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich alle wieder beruhigt hatten. In die erste Pause hinein sagte Lasse kurzerhand „männlich“, womit er seine Aufgabe als Schiedsrichter in der großen Geschlechterfrage erledigt hatte und klar war, dass Frieda und Henriette die Party organisieren mussten. „Heute abend! Bei mir! Wurmi-Schlupf-Party!“ kündigte Frieda also an. „Nee, Wurmi kann er jetzt wirklich nicht mehr heißen“, entgegnete Ferdinand. „Wir müssen einen anderen Namen für dich finden. Und für die Party.“ „Hm, lasst uns mal überlegen“, fing Igor an zu grübeln.
Ina Wosnitza
Naturschutz & Naturparke, Heft 219
Mitgliederzeitschrift des Vereins Naturschutzpark e.V. (VNP)
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